Bettlerin

Am Anfang meines Trainees pendelte ich zur Arbeit. Ich konnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, denn ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie mit einem, geschweige denn zwei Männern, zusammengelebt und scheute davor zurück. Als mein Chef mir anbot ihn zu einem Interview mit dem Geschäftsführer zu begleiten, ergab sich die ideale Gelegenheit, um mein neues Domizil zu beziehen, denn das konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Und die Furcht zu spät bei diesem Termin anzutanzen, schlug die Abneigung gegen die Männer. 
Mit Sack und Pack stand ich an einem Mittwochabend im November vor der Tür. Ich war schrecklich müde, wollte mich nur noch in einen Jogger schmeißen und schlafen gehen. Die Höflichkeit und die herzerweichenden Dackelblicke der Männer geboten mir jedoch in der Gemeinschaftsküche Platz zu nehmen und Smalltalk zu führen. Der Ossi holte nach ein paar Minuten eine Flasche Goldkrone aus dem Regal und der Latino öffnete eine Flasche Wein. Der Ossi machte den Anfang, „Also, herzlich willkommen! Wir haben uns schon gefragt, wann Du endlich hier einziehst.“
,,Auch ein Glas?“, bot der Latino an.
,,Eins. Ich muss morgen wirklich früh nach Köln und ich bin die Strecke noch nie gefahren. Ich gehe auch gleich ins Bett, damit es nicht hektisch wird.“, erklärte ich lustlos.
 „Ok.“, brachten sie einstimmig und verständnisvoll hervor.

Um drei Uhr nachts lag ich im Bett -  betrunken und glücklich. Ein wirklich schöner Einstand! Den Wecker hatte ich auf 6 Uhr gestellt, denn ich wollte um 06:45 Uhr los, mit ausreichendem Puffer für Sondersituationen. Meine Kleidung hatte ich schon in der richtigen Reihenfolge bereit gelegt – eine schwarze Hose, eine schwarz-weiß gestreifte Bluse und die Unterwäsche oben auf. Blazer und Stiefeletten lagen sorgfältig daneben. Alles war für den Super-Gau vorbereitet. Ich ließ zum Abschluss noch das Licht brennen und legte mich auf den Rücken, halb zugedeckt, damit ich es nicht zu gemütlich hatte.

Fuck! In meinen Ohren schrillte ein hoher Ton. Der Wecker. Oh. Ich schlug die Augen auf. Wo war ich? Desorientiert, mit einem abartigen Geschmack im Mund - pelzig würde ich sagen - starrte ich blind ins dunkle Zimmer. Ich sammelte mich und setzte mich plötzlich ruckartig auf. Das Klingeln war nicht mein Weck-, sondern mein Anrufton. Ich schaute auf das Display. Meine Mutter. 22 Anrufe in Abwesenheit. Meine Augen wanderten zur Zeitanzeige: 07:07 Uhr. Um Gottes Willen! Ich musste in einer Stunde in Köln sein. Ich hatte den Wecker für den falschen Tag gestellt. Ich sprang wie von einer Tarantel gestochen auf, rannte zu meinen Klamotten und sprang rein. Dabei stieß ich mir im dunklen Zimmer brutal den Zeh an, fluchte und torkelte auf die Haustüre zu. Zähneputzen? Keine Zeit. Haare kämmen? Keine Zeit. Kann ich alles machen, wenn ich dort bin. Die Haare beim Fahren bürsten und Kaugummi an der Tankstelle kaufen. Oberste Priorität? Unfallfrei um 08:30 Uhr im Parkhaus stehen. Ich schnappte meine Handtasche und lief die Stufen herunter. Im Auto startete ich die Navigation meines sehr, sehr kaputten Handys. Der Akku war stark lädiert und ohne konsequente Stromzufuhr ging das Telefon nach 30 Minuten aus. Ich startete den Motor. Piep. Ich schaute mit Unglaube auf das Cockpit und nahm verärgert zur Kenntnis, dass ich nur noch einen Tankstrich hatte. Der Reserveton ließ also nicht mehr lange auf sich warten. Fürs Tanken hatte ich jetzt aber nun wirklich keine Zeit mehr. Ich fuhr los in Richtung Autobahn. Ob ich wohl schon fahren durfte? Ich hatte vier Stunden zuvor am Glas gehangen und meinen Mitbewohnern selbstbewusst demonstriert, was es wirklich bedeutet eine trainierte Leber zu haben. Aber hatte ich eine Wahl? Ich wäre sogar nach Köln gelaufen.

Ich zündete eine Zigarette an und funktionierte den erdbeerroten Peugeot 207 kurzer Hand in einen Bugatti Veyron um. Der Verkehr war zäh, aber das hielt mich nicht davon ab, wie eine Irre über die Bahn zu preschen. Außer Rand und Band und mit dem Leibhaftigen im Nacken raste ich über drei von zwei offenen Spuren. Rechts, links. Rechts, links. Komplett rechts. Mein Navi spielte mit. Ich holte alles Erdenkliche aus dem Blechschwein raus, malträtierte mit aller Kraft das Gaspedal. Euphorie machte sich in mir breit. Die Zeit war mehr als knapp, aber ich konnte es schaffen.


Ich erreichte die Innenstadt fünfzehn Minuten vor meinem Termin. Jetzt musste ich nur noch das Parkhaus finden. Das Ziel war zum Greifen nah, als mein Telefon klingelte. Nein, nein, nein, nein, nein! Ich hob ab und brüllte in den Hörer: „MAMA, JETZT NICHT! MEIN DRECKSNAVI SCHMIERT DOCH AB, WENN MAN ANRUFT…“ Ich legte auf, prügelte wutentbrannt auf das Lenkrad ein. Die Ampel wurde grün und ich war in einem Wirrwarr aus Einbahnstraßen gefangen. Das Ziel in weiter Ferne.
Game Over. Das war es dann also. Gekündigt nach zwei Wochen. Ich stellte mir vor auszuwandern. Am besten etwas erzkatholisches, wo man mir die Beichte abnehmen würde und ich reumütig bis ans Ende meiner Tage auf einem Kartoffelacker schuften konnte, um für meine Sünden zu sühnen. 
Ich bog niedergeschlagen zum zehnten Mal ab, als sich vor mir in leuchtenden, unverkennbaren Lettern mein Ziel ankündigte. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich hatte es doch tatsächlich geschafft. Um 08:24 Uhr fuhr ich ins Parkhaus und wartete. Allein. Mein Chef war noch nicht da. 1000 Gummipunkte für den betrunkenen Trainee. Ich schaltete den Motor ab und atmete tief ein und aus. Jetzt musste ich nur noch den Termin überleben. In zwei Stunden war die Party vorbei. So schwer konnte das nun wirklich nicht sein.
Ein Audi bog vorsichtig um die Ecke. Mein Chef war da. Fünf Minuten zu spät. Nicht, dass ich mir sonderlich viel daraus machte, ich wollte es nur mal kurz erwähnen. Wir wurden am Personaleingang vom Filialleiter abgeholt und in einen Besprechungsraum geführt. Der Geschäftsführer traf 20 Minuten später ein. Die beiden wollten sich noch einmal unter vier Augen besprechen. Ich wartete indes draußen und versuchte nicht allzu viel zu sagen, aus Furcht jemand könne meine Fahne riechen. Was würden die Leute wohl denken?
Ich bekam Kopfschmerzen und fuhr mit meiner Zunge immer wieder über meine Zähne, als wollte ich den Restalkohol an meinem Gaumen feststreichen. Während ich aushaarte bekam ich rasende Kopfschmerzen. Bravo, ich hatte einen Kater.
Der Doktor rief an, „Der Journalist ist da. Abholen bitte.“ Ich lief zum Eingang und nahm den Journalisten und seinen dicken Begleiter in Empfang. Der Schreiberling war schon älter. Bart und Haare fast völlig ergraut. Er trug eine Brille, in dessen Gläser immer wieder das Licht so brach, dass man ihm nicht richtig in die Augen schauen konnte. Er lächelte mich an und entblößte seine leicht auseinander stehenden Zähne. Er war mir unsympathisch. Alles in allem wirkte er wie ein aufgerichtetes Wiesel, das jeden Moment zubeißen könnte. 
Das Interview lief aber ganz gut. Ich verfolgte das Gespräch hochkonzentriert und saugte jede Bewegung in mich auf. Das war spannend und brachte mich wieder auf Kurs! Nach sechzig Minuten war das Frage-Antwort-Spiel beendet. 
Im Anschluss hatten der Doktor und der Geschäftsführer nochmal etwas zu bereden und ich war offiziell entlassen. 
Ich schlurfte zur Bank, um etwas Geld zu holen. Ich hatte nicht einen Cent in meiner Tasche und musste schließlich tanken, Kaugummi und Kaffee kaufen und das Parkticket auslösen. Mein Handy war mittlerweile aus. Ich hätte mich gerne kurz bei Mutter für meinen Amoklauf entschuldigt, aber das musste jetzt leider warten. Ich lief zum Bankschalter, schob meine Karte glückselig in den Schlitz und wollte 20 € abheben. Auf dem Display erschien der Satz „Keine Auszahlung möglich.“ Das dümmliche Grinsen gefror auf meinem Gesicht. Ich probierte es nochmal. Und nochmal.
„Da kommt heute nichts mehr.“
Ich drehte mich um und entdeckte fünf übellaunige Gestalten hinter mir, die genervt darauf warteten, dass ich mein finanzielles Schicksal akzeptierte und die biege machte. Ich war pleite. Klar, mein erstes Gehalt war noch nicht da und es war Mitte des Monats. Und nun? Gestrandet in Köln? Ich konnte zurück in die Filiale und fragen, ob man mir das Parkticket auslösen würde, aber was war dann? Ich konnte keine 80 km mit Reserve fahren. Ich ging meine Möglichkeiten sehr rational durch und erreichte ziemlich schnell einen Punkt, an dem ich ernsthaft in Betracht zog betteln zu gehen. Den Gabenbecher hätte ich im nächsten Backwerk geklaut und in einem Supermarkt das authentische Karton-Schild organisiert. 


Aber wie lange wollte ich hier in Köln bleiben? Eine Woche? Und ich hätte mit meiner Bettelei im Wettlauf mit dem Parkautomaten gestanden. Ich musste schneller sein als die Parkuhr. Oder ich versuchte noch den Doktor zu greifen, um ihn um Hilfe zu bitten? Niemals!
Wie wäre es hingegen mit Anschaffen? Das war eine ehrliche Arbeit oder nicht? In dem Fall wäre ich in einer Stunde auf der Autobahn. Ernsthaft, wie lief das ab? Unter welche Laterne musste man sich in Köln stellen? Oder lieber in einem professionellen Ambiente? Gab es in einem Puff eigentlich Vorstellungsgespräche und war ich überhaupt qualifiziert? Die Idee gewann an Reiz. Ich würde jetzt sofort ein entsprechendes Etablissement im Internet suchen und mich vorstellen gehen. Von meiner gescheiterten Existenz berichten, würde eingestellt werden, ein Leben voller Sünden führen. Mich Tag ein Tag aus schmutziger fühlen und mich von dieser Welt aus Sex, Drogen und Gewalt verschlucken lassen. Nie wieder zurückgehen. Nach zwei Tagen würde man anfangen mich zu suchen, aber da hing ich bereits an der Nadel, abhängig von meinem Zuhälter. 20 Jahre später würde mich meine Mama finden, die nie aufgegeben hatte mich zu suchen. 
Tja, aber mein Akku war leer und googlen leider nicht möglich. Und so entging ich meinem Schicksal als Hure, stolzierte zu einem Bankangestellten und erklärte ihm meine Misere. Ich verströmte durch meine verzweifelt drein blickenden, braunen Reh-Augen die Überbleibsel meiner eben beendeten Sex-Karriere. Der Berater, ein blonder, junger Bengel, schob sein Telefon eilig über den Tisch und ich rief meine Eltern an, ließ beide aus Meetings antanzen und bettelte, nein, ich zwang sie mir auf der Stelle Geld zu überweisen. Wie unsagbar demütigend. Eine Stunde hockte ich in der Bank und überlegte, ob der Angestellte mir meine Story überhaupt abnahm - Ich hatte eine Fahne bis nach Oslo. Aber es konnte mir egal sein, mein Geld war da und ich erlöst. Ich lief schnellen Schrittes zur Tiefgarage, denn ich war seit rund zwei Stunden unauffindbar. Hätte schon längst wieder zurück im Büro sein müssen. Ich manövrierte mich aus der City zur Autobahn und schaltete an der nächsten Tankstelle mein Handy wieder ein. Vier Anrufe in Abwesenheit -  einer aus Konzernzentrale, drei von meinem Chef. Scheiße. Ich rief ihn an und er brüllte los: „Wo sind Sie?“
„Ich bin noch in Köln, weil ich ein Problem hatte, aber ich bin jetzt auf dem Weg.“, versuchte ich zu beschwichtigen.
„Was schlimmes?“, wollte er wissen.
„Nein.“
„Wenn Sie unterwegs sind, immer erreichbar sein.“
„Ja ich weiß, mein Handy ist nur kaputt und war aus. Ich hatte erst jetzt die Möglichkeit es zu laden.“
„Sie haben ja kein Diensthandy. Das habe ich vergessen.“
„Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor.“
„Ja, ja gut. Bis morgen.“

Was er nun wohl dachte? Das ich gemütlich in Köln shoppen war? Einen Kaffee an der Domplatte genossen hatte? Spielte keine Rolle. Fakt war, dass durfte nicht noch mal passieren. Ich fuhr in gezügeltem Tempo zurück. Meine Stimmung war gedrückt. Ich war froh, dass dieser Tag sich dem Ende näherte, aber ich war unzufrieden mit mir selbst. Ich fühlte mich schlecht und das hatte nichts mit dem feucht-fröhlichen Einstand von letzter Nacht zu tun.