Alte neue Freundschaft

Neulich Abend lag ich im Bett und stöberte auf Spotify nach guter Musik. Dabei stießen meine Ohren auf etwas alt Bekanntes: 'King oft the Rodeo', ein Song aus dem Album 'Aha Shake Heartbreak' der Kings of Leon. Ich musste unwillkürlich anfangen zu grinsen. Dieses Album hatte ich rauf und runter gehört, nachdem ich mit einem nagelneuen Führerschein in der Tasche in dem roten Peugeot meiner Mutter zu meiner besten Freundin gefahren bin. Süße Achtzehn. Achtzehn. So vor mich hinstarrend, wurde mir mit einem mal bewusst, dass das fast zehn Jahre her war. Eine Dekade. Das konnte doch nicht sein? Erst gestern nahm ich mein Abiturzeugnis in Empfang und hielt als Klassensprecherin eine kitschige Rede vor der ausgelassenen Gesellschaft. Erst gestern bin ich zu Hause ausgezogen, um etwas zu studieren, von dem ich dachte, es sei das Richtige. Und erst gestern habe ich den zweiten Vertrag bei einem großen Unternehmen unterschrieben. Wo war nur die Zeit geblieben? Zehn Jahre waren vergangen und noch immer hatte ich das Gefühl nicht vorangekommen zu sein. Sicher, ich hatte viel erlebt und auch geschafft. Dennoch fühlten sich Schule, Studium und Arbeit an wie ein monotoner und automatisierter Standardprozess, der möglichst effizient die nächste Generation aufs Leben vorbereiten sollte. Dadurch hatte ich das Gefühl, nebenbei nichts Richtiges gemacht zu haben, etwas Entscheidendes vergessen zu haben: richtig zu leben. Mich abzuheben.

Wenn ich über so etwas spreche schauen mich die Leute ziemlich ratlos an. Sie verstehen nicht recht, was ich will und ich kann es ihnen nicht begreiflich machen, weil das einzige Wort, das mir einfällt, um meinen Zustand zu beschreiben 'Mehr' lautet.
Ich will mehr. Es gibt so wahnsinnig viel zu entdecken, zu erleben, dass ein einziges Leben zu wenig ist. Meine Zeit ist mir so unsagbar kostbar, dass ich Bauchschmerzen bekomme, wenn mir bewusst wird, wie wenig ich davon zur freien Verfügung habe. Die meiste Zeit bin ich am Arbeiten, vielleicht werde ich irgendwann eine Familie gründen und Kinder bekommen. Ich weiß noch, wie ich mir zusammen mit meiner besten Freundin ausgemalt habe, wie wir nach dem Abitur nach Hawaii fliegen. Damals waren wir dreizehn und dieses Ziel unglaublich weit weg. Damals konnte man nicht schnell genug alt werden. Und tatsächlich sind wir bis heute noch nie allein zusammen verreist – in fast vierzehn Jahren nicht. Jetzt habe ich Ausbildungen abgeschlossen, verdiene Geld und bin unabhängig. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt um einfach zu tun, wonach mir der Sinn steht. Nur fehlt mir eine Begleitung. Jemand mit dem ich zusammen erleben kann. Woher sonst kommen diese Gedanken auf einmal?

Meine Freizeit verläuft in unaufgeregten Bahnen. So wollte ich es lange Zeit. Ankommen, in Ruhe leben, kein Kummer. Check. Und während ich in meinem selbsterschaffenen Wohlfühl-Kokon dahin vegetiere, verlieben sich meine Freundinnen und ziehen mit ihren Partnern zusammen. Mein bester Freund denkt ans Heiraten und würde am liebsten zum nächsten Juwelier stürzen, um einen Ring zu kaufen. Ich weiß, dass die neuen Formationen in meinem Freundeskreis der natürliche Lauf der Dinge ist. Es ist schön meinem TKKG-Club dabei zuzusehen, wie er erwachsen wird. Ich kenne sie alle mindestens zehn Jahre. Aber dieses erwachsen werden bringt zwangsläufig Veränderungen mit sich. Wenn ich mich mit dem Haufen treffe, dann sind wir zu dritt, zu fünft oder zu siebt. In meiner WG geht es auch los. Der eine ist seit einem Jahr in einer Beziehung und der andere tut alles, um schnell wieder eine zu bekommen. Es ist somit auch in meinen vier Wänden nur noch eine Frage der Zeit, bis ich alleine dasitze. Ich bin keine Priorität mehr, sondern eine kurzweilige Option und es fällt mir schwer, dass nicht an mich heran zu lassen. 

Ich wünsche mir zweifelsohne auch eine Partnerschaft, aber so etwas lässt sich nicht erzwingen und ich folge dem Credo, dass sich sowas einfach ergibt oder auch nicht. Ich verstehe diesen Trieb und diese Jagd nach einer Beziehung nicht, denn ich hatte nie Probleme allein mit mir zu sein. Ich genüge mir. 
Ich liebe meine Freunde und freue mich für sie, wenn sie glücklich sind. Ich gönne es Ihnen und störe mich nicht an dem Umstand, dass ich alleine bin. Nur habe ich zunehmend das Gefühl, dass meine Freunde ihr Interesse an mir verlieren. Wir leben verschiedene Leben, die sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Sie treffen sich mit anderen Pärchen und wenn ich versuche mich mit einem Städte-Trip dazwischen zu drängen, sind die Wochenenden bis auf Weiteres verplant. Ich habe das Gefühl ich verliere sie alle nach einander. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Dieses Gefühl der Unaufhaltsamkeit, der Unkontrollierbarkeit der Veränderung macht mich mürbe und wütend.
Ich habe mir immer vorgestellt, wie es ist, wenn wir zusammen Babys in die Welt setzen, uns gegenseitig Kotz-Geschichten erzählen und uns beim noch älter werden zuschauen.
Ich weiß, dass ich spätestens dann wieder was höre, wenn es schlecht in der jeweiligen Beziehung läuft und sie Abwechslung und jemanden mit einem offenen Ohr suchen. Ich freue mich  darüber, dass sie sich dann bei mir melden und wir wieder mal um die Häuser ziehen und dieses Gefühl von früher heraufbeschwören, aber ich weiß genau so gut, dass ich in dem Moment wieder abgeschrieben bin, indem der Streit beigelegt wurde.
Ich möchte auch nicht nur gefragt werden, ob ich Zeit habe etwas zu unternehmen, wenn der Partner zu einem Auswärtsspiel mit seinen Jungs unterwegs ist oder sich die Freundin meines besten Freundes auf einem Junggesellinnenabschied die Füße wund tanzt. Um diesen Umstand anzusprechen bin ich natürlich zu stolz. Denn hier verhält es sich wie überall im Leben: Wenn ein Mensch einen Teil seiner kostbaren Zeit mit dir verbringen möchte, dann meldet er sich in jedem Fall. So war es schon als Kind, als wir über die Straße liefen, um beim Nachbarskind zu klingeln. 
Ich bin natürlich keinen Deut besser. Ich frage mittlerweile auch immer seltener, weil der Wunsch mal wieder ganz ungeniert zu quatschen nicht kompatibel ist, mit dem Mann oder der Frau, die nicht zu meinem inneren Zirkel gehören. Ich mag sie alle ausgesprochen gerne und ich freue mich auch wenn sie dabei sind. Nur bitte nicht immer.
Ein weiteres Problem ist auch die Tatsache, dass ich nicht mehr in meiner Heimatstadt lebe, sondern rund eine Stunde entfernt. Mir gefällt mein Leben hier und ich genieße die vielfältigen Möglichkeiten, die mir die Großstadt bietet. Ich kann jedoch an einer Hand abzählen, wie häufig mich meine Schulfreunde in den fast zwei Jahren hier besucht haben. Alle haben einen Partner und keiner verzehrt sich danach mich am Wochenende zu besuchen. Und ich habe auch die Lust verloren jedes Wochenende nach Hause zu fahren, um meine Freunde zu treffen. Allmählich mache ich neue Bekanntschaften und knüpfe hier Freundschaften.

Oft vermisse ich die Abende, an denen wir gemeinsam ziellos umher gefahren sind und über Gott und die Welt geredet haben. Diese Nächte endloser Träumereien, Spekulationen und melancholischer Musik waren mal der Inhalt unserer Beziehung. Und heute weiß ich gar nicht so recht worüber wir reden sollen. Wenn wir uns treffen, quatschen wir übers Zusammenziehen, den Job, den letzten oder den nächsten Urlaub. Einfach unseren Alltag. Die Träume von einst sind der Realität gewichen. Oder wir reden über damals und schwelgen in witzigen Erinnerungen an die große Pause, in der wir über die teuflische Englischlehrerin hergezogen  haben, den Abiball, die Cocktail-Freitage in der einzigen Bar meiner Stadt, den Ritt auf einem heiligen Löwen, die Frau, die um zwei Uhr nachts erklärt, dass Männer Tränen unwürdig sind, das ausgeruderte Schützenfest, die Nacht vor Weihnachten. Und allmählich fällt mir auf, dass die immer weiter zurück liegen, weil wir keine neuen, denkwürdigen Memoiren schaffen.

Freundschaften, vor allem über eine räumliche Distanz hinweg, sind harte Arbeit. Aus den Augen aus dem Sinn trifft es in diesem Fall wohl am besten und ich komme zu der Frage, welchen Benefit ich als Freundin noch liefere und auch, welchen sie mir liefern?


All diese Dinge sind mir schlagartig bewusst geworden und ich frage mich, warum ausgerechnet jetzt? Schlittere ich hier in eine neue Phase? Ist das vielleicht eine Art Prä-Panik der zukünftig Zurückgebliebenen? Eine Vorschau auf das was mich erwartet, wenn ich nicht bald etwas finde, dass das Loch stopft? Ist das das 'Mehr', das ich bisher nicht definieren konnte? Der tiefe Wunsch und die Sehnsucht in den elitären Kreis der Pärchen hineinzukommen? Nur, wodurch erhalte ich die goldene Clubcard? Muss es unbedingt ein Partner sein? Womit kann man sonst in unserer Gesellschaft glänzen? Super ausgefallene Mainstream-Reisen, ein runder, großer Hintern oder doch eine steile Karriere in einem Spitzenkonzern?
Möchte ich überhaupt in diesen Club oder muss ich einfach akzeptieren, mich damit abfinden, dass hier die große Ära der ungezwungenen Jugend sein natürliches Ende findet?
Vielleicht sollte ich meine Freunde ziehen lassen, mich darauf freuen, wenn der Partner mal was vorhat und die zufälligen Zweisamkeiten genießen. Vielleicht ist es Zeit neue Freunde zu suchen, die ähnliche Interessen haben und auch noch immer alleine das Leben genießen. Beide Konstellationen müssen sich ja nicht ausschließen. Unsere Freundschaften verändern sich, aber das muss ja nicht bedeuten, dass wir keine mehr sind oder? Es kommt auch darauf an, wie man Freundschaft definiert und das sind doch nicht nur die Anekdoten von damals, sondern die Gewissheit, das dort, auch wann man sich lange Zeit nicht gesehen hat und manchmal gar nicht weiß, worüber man überhaupt reden soll, jemand ist, der einem so tief vertraut ist wie es höchstens Geschwister sein können, eben weil man auf das Fundament bestehend aus einer gemeinsam verbrachten Kindheit und Jugend, zurückblicken kann. Unsere Freundschaft bekommt eine neue Qualität und ich muss akzeptieren, dass wir nicht mehr zwanzig sind und hoffen, dass wir uns auf den 23.12. besinnen. - Der eine Tag im Jahr, an dem die Familie zusammen kommt.

Am Ende der nächsten Dekade, wenn ich einen Song aus dem Jahr 2017 höre und anfange Revue passieren zu lassen, werde ich wissen, was das Richtige war und ob es ein Richtig überhaupt gab. Ich werde herausgefunden haben, worüber ich mich definieren möchte.

Wir stehen an unterschiedlichen Punkten in unserem Leben und keiner ist in seiner Qualität schlechter als der andere. Einfach anders. Und in zehn Jahren, werde ich feststellen, dass all das was ich tue und sei es diesen Text zu schreiben, das Leben nebenbei und bereits ein Teil des ominösen 'Mehr' war.