Schöner Schein

Für mich ist es eine große Herausforderung für eine große, konservative Beratung oder eine Bank zu arbeiten, denn ich würde mich Tag ein Tag aus verkleidet fühlen. Die Einhaltung eines Dresscodes und die Anpassung würden mir zu schwer fallen. Eine meiner ersten Stellen war in einem Konzern mit einem überdurchschnittlich hohen Altersdurchschnitt. Das Unternehmen war schon weit über hundert Jahre alt und die Hierarchie und Traditionen, die bis heute innerhalb der tristen Mauern gepflegt wurden, entsprachen noch immer anno 1900. Auf der Managementetage waren Anzug und Kostüm Standard und entsprachen dem gewohnten Bild. In den Etagen darunter, die vom Pöbel belagert wurden, sah die Kleiderordnung schon entspannter aus. Ich saß oben, und fragte mich oft, was die Menschen wohl über mich dachten.


Was Schlussfolgerten sie daraus, dass ich eine Jeans statt einer Stoffhose trug? Was sagte das über mich aus? Ich war nicht gewillt mich anzupassen, weil ich vehement die Meinung vertrat, dass Kleidung nichts über Leistung und den Menschen, den es verpackt, aussagt. Ich fing an mich mit dem Thema zu beschäftigen und wurde schnell eines Besseren gelehrt. Meine Aussage, dass Kleidung nichts über den Charakter eines Menschen aussagt, zeugt von meinem jugendlichen Idealismus und ist gut gemeint, jedoch viel zu naiv und noch lange nicht zu Ende gedacht. Um ein Verständnis dafür zu erlangen müssen wir ein bisschen weiter ausholen. Jeder hat schon einmal den Satz „Der erste Eindruck zählt“ gehört. Im passenden Moment von den Eltern serviert, auf der Suche nach einem ansehnlichen Hemd für das erste Bewerbungsgespräch, später dann, allein durch Malls hetzend, um einen guten Eindruck am ersten Tag zu hinterlassen. Geschniegelt und gestriegelt, aufrecht und höflich lächelnd auf den Sofas dieser Welt sitzend, um die künftigen Schwiegereltern mit unseren hübschen Kleidern zu becircen. Niemanden interessiert es, ob wir uns wohlfühlen. Denn es ist wichtiger den Schein zu wahren. Ich bin von dieser simplen Heuristik nicht ausgeschlossen. Auch ich lasse mich vom Schein verführen und schreibe der mir unbekannten Person aufgrund von Äußerlichkeiten spontan assozierte Eigenschaften zu. Dieser Wahrnehmungsfehler sorgt dafür, dass wir aufgrund erster, schneller und vor allem unvollständiger Informationen einen Menschen bewerten und ihn kategorisieren. Diese ersten Informationen, die wir uns nach wenigen Sekunden bereits erlauben, sind so nachhaltig und deutlich, dass wir Informationen, die wir später erhalten, weniger beachten und tendenziell von uns weisen, wenn sie nicht zu dem Bild passen, das wir uns von der Person erschaffen haben. Sind wir ehrlich, die Realität ist eine hässliche Fratze und wir lassen uns gerne mit karschierenden Filtern in die Irre führen.

Man braucht sich nur den Unterschied seiner Gedanken zwischen einem Junkie, der vor einer Bank schnorrt und dem ersten Handdruck mit dem Chef bewusst zu machen.


Und entsteht nicht ganz unwillkürlich ein Bild mit einem Gefühl vor den Augen, welches wir auf die entsprechende Person projizieren? Und oftmals stimmt der erste Eindruck auch.

Der Effekt ist ein klassisches Phänomen der Alltagspsychologie, das vor allem im Rahmen der Bewerberauswahl vielfach untersucht wurde. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man ganz bewusst Einfluss auf die eigene Wirkung nehmen kann. Tun wir auch alle Tag für Tag, wenn wir morgens vom Schlafanzug in die Jeans schlüpfen, weil es sicherlich einen seltsamen Eindruck hinterließe, würde man im gemütlichen Netflix-Outfit in der Firma aufschlagen. Ich erinnere mich an einen ehemaligen Arbeitskollegen, den ich immer in den Pausen traf. Ein reservierter Typ, der alltäglich mit Stoffhose und Hemd zur Arbeit kam. Wir waren nach kurzer Zeit beim Du und redeten über Privates. Ich hielt ihn für einen netten, eher langweiligen Typen. Ein wenig spießig, ein wenig nerdig. Nachdem ich meine Anstellung kündigte und wir uns Wochen später zu einem Kaffee verabredeten, staunte ich nicht schlecht, als er mit Rockabilly-Tolle und komplett tätowierten Unterarmen, vor mir stand. „Das hätte ich ja nicht gedacht.“, sagte ich zu ihm.
Heuristiken sind nicht verkehrt und helfen uns bei der Orientierung. Oftmals liegen wir mit unseren Einschätzungen gar nicht falsch, in meinem Beispiel ist es sogar ganz witzig. Heuristiken beruhen auf subjektiven Erfahrungen, wodurch schnell Vorurteile und Verzerrungen der Realität entstehen.

Unangenehm und schwierig wird es vor allem dann, wenn wir uns vom ersten Eindruck blenden und verführen lassen und Fehlinformationen die Basis privater Beziehungen bilden. Ich zum Beispiel, kann mich hervorragend und sehr schnell für Menschen begeistern. Die Begeisterung flaut aber genauso schnell wieder ab, plötzlich sind da negative Eigenschaften. „Am Anfang war er gar nicht so.“, wäre in diesem Fall der Satz meiner Wahl. Sicher? Am Anfang war er nicht so? Hat er oder sie in den letzten vier Wochen seinen Charakter voll umfänglich verändert? Eher unwahrscheinlich, 
oder? Ist es nicht stattdessen denkbar, dass zugunsten des äußerst löschungsresistenten ersten Eindruckes Dinge wohlwollend übersehen und vielleicht sogar verdrängt werden? Mit dieser Denke nähern wir uns einer weiteren Verzerrung des Alltags, dem „Halo-Effekt“, zu Deutsch „Heiligenschein“-Effekt. Meines Erachtens resultiert das eine, aus dem anderen. Schreiben wir beim Primäreffekt blitzschnell Eigenschaften wie Humor, Intelligenz und Strebsamkeit zu, so sorgt der Halo-Effekt für die Aufrechterhaltung positiver Eigenschaften bei einer anderen Person. Man will etwas sehen, was gar nicht da ist. Passieren Dinge, die nicht zu diesem Bild passen, rechtfertigen wir sie. „Nein, nein, er ist nicht launisch. Hat nur viel Stress im Moment.“, „Ach quatsch, sie ist nicht geizig, sie spart für andere Dinge.“, „Nein, er ist nicht unzuverlässig, er hat nur bei all der Arbeit die Zeit vergessen.“
Mag alles stimmen, passiert etwas einmal, ist das nicht schlimm. Beim zweiten Mal bröckelt die Rechtfertigung und beim dritten Mal erkennen wir ein Muster und sind gegebenenfalls gezwungen unsere Sichtweise zu korrigieren und uns einzugestehen, dass wir einem Irrtum erlegen sind. So jedenfalls das Ideal, passiert das beispielsweise in den ersten Monaten einer Liebesbeziehung, in denen wir als kuschelhungrige Oxytocin- und Dopamin-Opfer, die die Welt mit unserem Glück belästigen, dauert es gerne länger bis der Groschen fällt.

Habe ich selbst und bei vielen meiner Freunde erlebt. Meine letzte Beziehung beruhte auf einer Verkettung diverser Wahrnehmungsfehler, die aus einem alten Wunsch nach Nähe und Liebe resultierten. Ich versuchte einen Menschen, dem ich schöne Eigenschaften zuschrieb, in meinem Traum hineinzupressen und verdrängte tunlichst, all die Eigenschaften, die nicht dazu gepasst hätten. Überraschenderweise hielt die Beziehung nicht lange. Wir waren zu verschieden. Ein kleines Beispiel von vielen. Es ist unglaublich wie vielen Menschen ich in meinem Leben begegnet bin, denen ich die dollsten Eigenschaften zu geschrieben habe – positiv und negativ -  und am Ende war nichts davon existent.
Das bedeutet nicht, dass unser Bauchgefühl beim ersten Eindruck Humbug ist und jede Begeisterung eine Verblendung. Es gibt noch zahlreiche Effekte, die uns im Alltag beeinflussen. Und es spielen noch sehr viele andere psychologische und physiologische Gründe eine tragende Rolle für das schnelle Scheitern von Beziehungen jeder Art, aber wenn man das nächste Mal vor Begeisterung überschäumt, könnte es Sinn machen, einen Schritt zurück zu treten und sich zu fragen, ob man nicht gerade durch einen hübschen Filter schaut.


Wer mehr zu diesem Thema lesen möchte:
Kahnemann, D. (2011): Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag, München. (Standardwerk zur Entscheidungsfindung)