Schwarzes Kleid

Ich begehe mein gesamtes Leben in Erwartung. In Erwartung auf etwas Diffuses. Eine atemberaubende Reise, die große Liebe, mein Leben? Wer weiß das schon? Aber eines, das weiß sogar ich. Ich will einmal spüren, wie sich Fehlerlosigkeit in unserer oberflächlichen Welt anfühlt. 
Manchmal, wenn ich vor mich hinträume, stelle ich mir vor, wie ich ein schwarzes Kleid trage. Der Stoff ist schwer und hochwertig. Das Kleidungsstück liegt eng am Körper. Meine Silhouette in jeder Kurve erkennbar. Das Kleid sitzt perfekt, ich bin perfekt. Ich trage das Stück mit dieser kühlen, selbstverständlichen Eleganz, die manche Menschen umgibt. Pure Makellosigkeit. Die perfekte Maske. Mein Verstand weiß, dass Perfektion nicht erstrebenswert ist. Dennoch möchte ich wissen, wie es sich anfühlt, körperlich keinerlei Unzulänglichkeiten mit sich herum zutragen. Das ist nicht rational. Und der falsche Weg , oder?
Perfektion ist sicherlich nichts, was man in stiller, passiver Erwartung erreicht. 
Und wie will ich mein Ziel erreichen, ohne wirklich etwas dafür zu tun? Mir rennt die Zeit davon. Ein Jahr, zwei Jahre? Kann ich dieses Ziel überhaupt erreichen? Sollte ich nicht stattdessen anfangen mich zu mögen, so wie ich bin. Mit jeder Schwäche. Jedem Versagen. Jedem Fehler. Äußerlich wie innerlich. Pure Selbstakzeptanz. Annehmen was mich ausmacht. Die Makel. Das klingt klug und vernünftig. Aber da ist dieser gemeine Saboteur in meinem Kopf. Ich, mein dunkelster und härtester Feind. 


Dieser Feind bringt für jeden Menschen Verständnis und Nachsicht auf. Denn ich weiß, das Menschen fehlbar sind und ihre Individualität ihre Attraktivität kreiert. Ich weiß, dass Menschen fehlbar sind. Nur erwarte ich von mir Unfehlbarkeit. Paradox.
Ich wollte mein Leben lang perfekt sein. Und nun? Heute bin ich alt. Verstehe nichts von der Welt und habe meine übermütige Begeisterungsfähigkeit eingebüßt. Was weckt meine Leidenschaft? Wofür brenne ich überhaupt? Die dumpfe Leere in meinem Sein verhält sich wie ein Vakuum. Ich stoße alles von mir und sauge mein Umfeld durch dumpfen Nebel in mich auf. Ich hatte so viele Träume. Und am Ende alles bekommen, was ich mir sehnlichst gewünscht habe, worauf ich hingearbeitet habe. Habe mich immer weiter an den Abgrund getrieben mit meinen unerfüllbaren und unrealistischen Erwartungen. Und mit jedem Ziel, das ich erreicht habe, schafft die Realität Variablen, die ich nicht bedacht habe. Und die hohle Floskel, man solle aufpassen, was man sich wünscht, gewinnt an Zynismus.  Zu recht, denn Ziele zu erreichen, für jemand anderen als für mich, müssen scheitern. Für wen möchte ich perfekt sein? Für mich selbst? Eher nicht. Ich will Anerkennung, Liebe und Zuneigung von anderen Menschen. Und perfekte Menschen werden bewundert. Nun ja, solange sie ihre Fassade aufrecht erhalten. Ich weiß, dass man Menschen nur vor den Kopf schaut. Jeder hat seine eigenen Motive und Teufel. Aber diese Bewunderung möchte ich dennoch so gerne einmal fühlen. 

Ich habe mich neulich gefragt, ob es tatsächlich etwas gibt, dass ich nachträglich bereuen würde. Gibt es. Ich bereue, dass ich unglücklich bin und mich von negativen Emotionen beherrschen lasse. Als sei ich meinem Kopf hilflos ausgeliefert. Ich bereue, dass ich noch nie in den Spiegel geguckt und mich angenommen, hingenommen habe, so wie ich bin. Ich bin unglücklich mit dem Ist und träume vom Soll. Denke über die Bedingungen, meine Lebensumstände nach, die geschaffen werden müssen, damit ich glücklich werde. Und so vergehen meine Jahre. Meine Jugend. Ich selbst. Tik Tak. Die Zeit rast. Sie rinnt mir durch die Finger und ich sitze hier, genau wie im Jahr 2012, im Jahr 2013, im Jahr 2014, 2015, 2016, 2017. Tik Tak. Ich durchbreche diese Schranke nicht und scheitere an mir selbst. Ich sollte noch morgen in die Stadt fahren und ein Kleid kaufen. Von besonderer Qualität. Es sollte mir schmeicheln und keine Rolle spielen, was es kostet. Ich sollte es anziehen, bezahlen und damit das Geschäft verlassen. Stolz sollte mich umgeben.
Denn ist es nicht so, dass ich mein Glück im Jetzt finden muss, damit ich in der Zukunft ankommen kann? Es sind die Bedingungen, die wie Ausreden fungieren. Will ich überhaupt leicht und beflügelt sein? Habe ich mich schon an diesen Zustand, mit Königin Schwermut an meiner Seite gewöhnt? Habe ich am Ende gar nicht den Mut und den Schneid, um Zufriedenheit zu erlangen?

Und ich weiß schon jetzt, wenn ich das nächste Mal in der Kabine stehe, fange ich an zu denken. Drehe an meinem Glücksroulette und verliere. Sehe die Mängel und nicht die Vorzüge. Verliere den Mut, mit diesem Kleidungsstück die Straße entlang zu flanieren. Geniere mich vor fremden Blicken. Also ziehe ich mich wieder um und verlasse, ohne etwas zu kaufen, das Geschäft. Und früher oder später sitze ich wieder hier und bereue, dass ich noch nie ein schwarzes Kleid gekauft habe.