Blue Lighter

Das mit den Erwartungen ist ein leidliches Thema. Ohne ist man definitiv besser dran. Keine zu haben, mir persönlich zumindest, kaum möglich. Wenn ich jedoch an Momente in meinem Leben zurückdenke, in denen ich einfach unverkopft irgendwo reingesprungen bin, dann lag es ausschließlich daran, dass ich vorher entweder keine Zeit hatte, um darüber nachzudenken, betrunken war oder jemand anderes die Planung übernommen hat. Im Endeffekt also alles das gleiche oder anders gesagt, Kontrollentzug.

Der Abend an dem ich ihn traf hatte ich keine Erwartungen. Ich hatte nicht einmal Lust und zwang mich zum vereinbarten Treffpunkt. Und jetzt sitze ich hier, Wochen später und will die Zeit zurückdrehen. Ich traf ihn in meinem Solo-Roadtrip durch den Balkan und hatte schlicht Lust auf ein Date, nachdem ich die Nacht zuvor übermüdet und allein in einem Restaurant vor mich hinbrütete. Also wie so oft, Tinder an und ran an den Speck. Wir matchten, wir schrieben, wir verbredeten uns. Wir trafen uns an einem lauen Freitagabend in Rovinj. Ein wunderschönes Fleckchen in Kroatien. Er führte mich in eine coole Cocktailbar, mit Blick auf das schwarze Meer und in Stein gehauene Sitze. Wir saßen eng nebeneinander und bestellten Drinks. Er Pina Colada und ich einen süffigen Aperol Spritz. Wir tranken, rauchten und genossen den Abend. Als er mir Feuer reichte, dachte ich, dass er meines hatte. Wir stellten fest, dass wir das gleiche blaue Feuerzeug hatten. Ein eher unspektakuläres Detail des Abends, aber witzig im Moment und im nachhinein von Bedeutung. Er war attraktiv, smart und sehr redegewandt. Ich fühlte mich jede Minute wohler mit ihm. Unsere Beine und Arme berührten sich die ganze Zeit. Er war unaufdringlich und dennoch sehr präsent. Er war jemand, der gerne den Ton angab und wusste, was er wollte. Und ich wurde von Minute zu Minute ruhiger und nervöser zugleich. Er beruhigte mich im selben Maß, in dem er mich anfing nervös zu machen. Meine eigene Dominanz schluckte ich mit dem letzten Schluck des ersten Drinks hinunter. Sein Charme und sein Humor gefielen mir. Ich fühlte mich mit ihm unglaublich gut. Irgendwann erzählte er, dass er gestern Nacht ein Pärchen aus den USA kennengelernt hätte und dass er ihnen angeboten habe, zu unserem Abend dazuzustoßen. Da ich die intime Stimmung mit ihm genoss, fand ich das nicht so prickelnd, da ich aber auch „Go with the flow“ auf meiner Agenda stehen hatte, gab ich mich aufgeschlossen und eine Stunde später standen Abby und Peter vor uns, auf Koks und super energetisch. Damit nahm unser Abend eine vollkommen andere Wendung. Die beiden waren zwar nett, aber auf einem vollkommen anderen Level. Das heißt, wir mussten hoch und die beiden etwas runterkommen. Die zwei kamen jedes Jahr nach Rovinj, um Salsa zu tanzen. Das war super seltsam, vor allem da sie nur einen Katzensprung von Lateinamerika entfernt lebten. Nun denn, wegen Corona fiel die Veranstaltung aus, was sich die Fans nur ungerne nehmen ließen. Heißt, es gab, versteckt und etwas außerhalb der Stadt, eine illegale Party. Nach zwei weiteren Drinks beschlossen wir zu dieser Party zu gehen. Schrägerweise hatte ich nicht eine Sekunde Angst. Er strahlte eine ungeheure Selbstsicherheit auf mich aus. Ich setzte mich in seinen Fahrradkorb und dann machten wir uns auf den Weg. Ich war einfach glücklich und vollkommen euphorisiert. Nach diesem Gefühl hatte ich die Monate davor gehungert. Ich fühlte mich in diesen wenigen Minuten so jung und unbeschwert, wie lange nicht. Ich lachte laut, war albern. Vergaß meine sonst gelebte Reserviertheit. Ich frage mich im Nachhinein, wer ich eigentlich bin? Die ausgelassene Seele in Kroatien oder die leere, schwere Tote in Deutschland? Sind das verschiedene Aspekte meines Charakters? Lege ich mir in Deutschland selbst eine Leine um den Hals, die ich nur in der Ferne ablegen kann? Oder bin ich dieser ernste Mensch, der nur Ausversehen seinen Verstand kurz mal abgeschaltet hat? Klar ist, ich mag die leichte Frau lieber. Sie ist so wunderbar leidenschaftlich und neugierig. Sitze ich zu Hause in meinem Alltag bin ich bis zur Haarspitze vollgepumpt mit Ängsten und Sorgen. Ich schlurfe mich in die Therapiestunden, in denen ich mich beklage, dass ich meinen Job nicht mag, habe Schlafprobleme und fühle mich ausgeschlossen vom Rest der Welt. Bin ich allein, wenn keiner hinsieht und ganz auf mich allein gestellt, lebe ich auf einmal. Da sauge ich die Momente wie frische Luft tief in mich rein. Ich bin so unbeschreiblich hungrig – nach Liebe und dem Leben. Zu Hause gehe ich ein wie ein Topfpflänzchen, vergessen von seinem Besitzer. Welk. Ich leider unter meiner Unfähigkeit den Zustand von Freiheit, Ausgelassenheit und Lebensfreude in meinen Alltag zu integrieren. Aber dieses Ziel erscheint mir meine persönliche Definition von Glück. Den Alltag nehmen wie er kommt. Maximal bis morgen denken und das Leben eine Überraschung sein lassen. Mir ist natürlich bewusst, dass es den meisten Menschen so geht und jeder im Urlaub gelöster ist. Aber ich erkenne mich kaum wieder.


Zurück in Rovinj stellten wir irgendwann das Fahrrad ab und liefen durch einen stockfinsteren Wald. Ich sah die Hand vor meinen Augen nicht, die andere Hand hatte er genommen. Auf einmal drang Musik an mein Ohr, die mit jedem Meter lauter wurde. Plötzlich stand ich zwischen hunderten von Menschen, die ausgelassen tanzten und die Nacht genossen. Bachhata, Kizomba und Salsa schallten drch die Nacht. Abby und Peter schmissen sich sofort ins Getümmel. Wir beide gingen in eine der ruhigeren Tanzecken und fingen an, wie Teenager, zu knutschen und zu tanzen. Ich habe keine Ahnung, ob wir uns 5 oder 50 Minuten dort hin und her wiegten. Ich habe das Zeitgefühl vollkommen verloren. Irgendwann verließen wir allein, Hand in Hand die Party und machten uns auf den Weg zu mir. Was danach kommt behalte ich stilvoller Weise für mich, aber geschlafen habe ich nicht keine Minute. Ich verbrachte noch zwei weitere Nächte mit ihm, die alle vollkommen andere Situationen und Geschichten kreierten. Wir haben kaum Zeit miteinander verbracht, aber ich fing an ihn mit einer Selbstverständlichkeit zu berühren, wie ich das seit Jahren bei keinem Mann mehr getan hatte. Es fühlte sich so an, als wären wir seit Jahren zusammen, dabei kannte ich ihn nur wenige Stunden. Das ist verrückt. Es war nicht alles perfekt, manchmal bescherte er mir Bauchweh. All meine Alarmglocken schrillten gleichzeitig laut auf. Da ich aber davon ausging, dass wir uns sowieso niemals wiedersehen würden und das gute Gefühl mit ihm überwog, blendete ich es aus. Er überschüttete mich mit Komplimenten, beteuerte wie besonders diese Tage für ihn waren und das wir uns wiedersehen würden. Ich fühlte und hoffte inbrünstig dasselbe, aber fiel zurück in meine Reserviertheit. Ich glaubte ihm kein einziges Wort. Ich war zu 100 Prozent sicher, dass er das einzig aus dem Rausch heraus sagte oder um mir einfach ein gutes Gefühl zu geben. Am Tag meiner Abreise war mein Herz schwer. Am liebsten hätte ich mich an seinen Rücken geheftet wie ein kleines Koalababy. So bin ich einfach. Ich kann Sex nicht einfach Sex sein lassen. Für mich war es mehr als das, sonst wäre ich kein zweites Mal mit ihm ins Bett gegangen und hätte schon gar nicht mit ihm gekuschelt, was selbst mit Alkohol für mich unmöglich ist, wenn ich meinem Gegenüber nicht vertraue oder besonders gerne habe. Das ist mein Intimitätsmaximum.
Nach unserem Abschied schrieben wir einige Tage und hatten eine Woche später ein angespanntes Telefonat. Nach diesem ging ich davon aus, dass ich nie wieder etwas von ihm hören würde und das sich das erledigt hatte. Zwei Stunden danach knutschte mit einem umwerfend attraktiven Iren auf einer Sehenswürdigkeit in Split rum und vergaß Rovinj. Der Leprechaun war sexy, witzig und konnte gut küssen, aber machte mich nicht an. Der Ofen blieb aus. Ihm das zu verklickern war zwar etwas unangenehm, aber das ist eine andere Geschichte. Nach diesem Abend packte ich meine Sachen, um Ruhe zu finden. Ich kehrte den pulsierenden Städten den Rücken und fuhr an die Spitze von Peljesac. Mitten im Nirgendwo schlief ich mich zum ersten Mal so richtig aus. Ich genoss die ruhigen Tage, konzentrierte mich auf mich und entdeckte einen neuen Abschnitt von Kroatien.
In Summe war es mit all diesen Tagen voller Action, ruhiger Strandtage und fantastischen Dinnerdates leicht ihn und Rovinj auszublenden.
Ich fuhr anschließend die kroatische Küste hinunter bis Cavtat, wo ich kurzerhand entschloss meine verbleienden freien Tage in Bosnien und Herzegowina zu verbringen. Dann, an meinem letzten Abend, als ich müde und halb erfroren in meinem Hostelbett in Sarajevo lag, meldete er sich bei mir. Ich war irritiert, wütend und froh. Als er dann Anfang sich intensiver zu melden und anzurufen, platzte die zuvor so mühsam begrabende Sehnsucht wieder an die Oberfläche. Seitdem halten wir den Kontakt über tausende Kilometer entfernt. Wir haben telefoniert und geschrieben. Irgendwie schön, wenn da nicht seine Pläne wären, Europa für die kommenden Monate zu verlassen. Ich wusste, dass er vier Wochen in die USA wollte. Das er danach noch für zwei Monate durch Brasilien reist, hat er mir erst am Tag vor seiner Abreise am Telefon gesagt. Als ich erfahren habe, dass er nicht im Dezember, sondern frühestens im Februar von seiner Reise zurückkommt, ist meine Welt ganz kurz ins Wanken geraten. Denn da waren sie inzwischen. Die Erwartungen. Oder eher die Hoffnung, die sich nun enttäuscht vor mir ausbreitete. Das war für mich der Todesstoß und ich war wütend auf mich und meine romantische Hoffnung, dass daraus wirklich etwas werden könnte. Ich verabscheue Naivität und wurde nun von ihr begossen. Wie dumm muss man sein, dass ich annehmen konnte, dass daraus etwas hätte werden können? Wie dumm muss man sein, dass man sich in einen Mann verliebt, der gar nicht verfügbar ist? Oder ist das der Zauber? Geht es gar nicht um ihn, sondern nur darum, dass ich ihn nicht haben kann? Lindert die Wut über meine Naivität, macht mich aber mindestens genauso traurig. Den Gedanken zu haben ist sicherlich nicht verkehrt und sollte mich zwingend damit auseinandersetzen, dass wir uns nur so fühlen wie wir fühlen, aufgrund der Distanz. Aber das rauszufinden ist mir erstmal nicht möglich.
Am Tag vor seiner Abreise habe ich ihm ein Einblick in meine Gefühle gegeben und er wirkte fest entschlossen, dass wir uns wieder sehen, sobald er zurück in Schweden, seiner Heimat ist. Ich glaube ihm inzwischen sogar, dass er das ganz aufrichtig so meint, aber das ist so weit weg und damit so unrealistisch. Die erste Möglichkeit ihn wiederzusehen ist ein ganzes halbes Jahr nach unserem Abschied in Rovinj. In diesem Satz steckt alles an Kopfschütteln und Traurigkeit was ich zu bieten habe.
Gestern ist er in Miami gelandet und unternimmt den Trip seines Lebens. Ich bewundere seine Reiselust und freue mich riesig für ihn. Das wird sicherlich fantastisch. Er ist ein attraktiver, junger Mann der sich in den kommenden vier Monaten von Zentral- nach Südamerika reist und eine Galerie voller atemberaubender Momente und Impressionen bastelt. Wer kann es ihm verübeln? und wie wahrscheinlich ist es, dass die Erinnerung an mich dabei nicht vollkommen verblasst? Ich wünsche ihm das allerbeste und den vollen Genuss seiner Freiheit. Wir haben uns nichts versprochen und das ist angesichts unserer bisherigen Geschichte auch wirklich das mindeste. Wenn ich diesen seltsamen Samariter in mir mal kurz rausschmeiße und mein Ego sich aufrappelt, dann brauche ich eine Lösung und zwar schnell. Ich sollte mich ablenken und Optionen schaffen. Denn selbst wenn er mich nicht vergisst, kann ich nicht hier sitzen und warten und hoffen. Also mache ich es wie in der Nacht bevor wir uns getroffen haben? Ich mache Tinder an, obwohl ich gar nicht will und schaue, ob ich einen Mann finde, der mit gefällt, der drei gerade Sätze rausbringt und Lust hat mich auszuführen? Ich lebe mein Leben ganz normal weiter und versuche Rovinj als das zu betrachten was es war - Ein fantastisches Abenteuer und der Höhepunkt meiner ersten Reise ganz alleine? Leider ja.
Ich kann leider nicht steuern in wen ich mich verliebe. Aber ich muss dafür sorgen, dass ich mich nicht darin verliere. Ich muss drüber hinweg kommen und die Hoffnung begraben, dass er eines Tages vor meiner Tür steht. Witzig, wie leicht sich das geschrieben hat. 
Ich fühle mich so beraubt. Ich bin so wütend, dass er sich bei mir gemeldet hat und so wütend, dass ich darauf angesprungen bin wie eine Verdurstende, die sich in der Wüste verlaufen hat. Mit der eher schwierigen Ansage an mich selbst ihn vergessen zu müssen schwingt auch die Angst mit, dass er gar nicht mag, wer ich bin. Wer mag schon eine leere, schwere Tote? Wer hat Lust auf eine Frau, die bis in die Haarspitze vollgepumpt ist mit Ängsten und Sorgen, die sich zur Therapie geht, die ihren Job nicht mag, schlecht schläft und sich ausgeschlossen von der Rest der Welt fühlt? Niemand. Ich möchte uns einfach den Moment ersparen in dem ihm klar wird, wie bedürftig ich tief im inneren bin. Ich will nicht erleben, wie er begreift, dass ich mich alle paar Monate in einer depressiven Phase wiederfinde. Wer mag so eine Person schon? Ich arbeite daran und lerne damit umzugehen, aber das traurige, sehnsuchtsvolle Mädchen ist und bleibt ein Teil von mir.
Und was ist, wenn die Zeit in Rovinj einfach viel zu krass idealisiert haben? Was ist, wenn ich ihn eigentlich gar nicht will? So sehr meine kleinen, süßen Träume momentan mit mir durchgehen, so sehr möchte ich eigentlich nicht riskieren, dass alles in einem Desaster ändert….
Ich stelle also in Summe fest, ich habe mein Herz bei ihm gelassen, als ich weiter gefahren bin. Und nun habe ich Angst vor den vor mir liegenden Wochen und Monaten, in denen ich gezwungen bin, die Dinge auf mich zukommen zu lassen und irgendwie verletzlich zu sein. Ein erzwungenes Abschalten der Kontrolle. Aber, so denke ich, während ich das blaue Feuerzeug in meiner Hand halte, ist das nicht eigentlich der Auftakt für die besten Abenteuer
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